Die Sprachentwicklung des kleinen Prinzen war – rückblickend gesehen – eigentlich schon immer etwas auffällig. Er hat verhältnismäßig früh damit begonnen, Sprache nachzuahmen, auf Spanisch ebenso wie auf Deutsch, und ist nach wie vor mitunter ein ziemliches Plappermaul. Früh ist uns seine beeindruckende Merkfähigkeit aufgefallen, denn er konnte sich in kürzester Zeit praktisch ganze Büchertexte mehr oder weniger auswendig einprägen. Es sah teilweise wirklich so aus, als würde er ein Buch laut vorlesen. Zum Glück habe ich damals mit dem Smartphone so viele Videos gedreht, sonst hätte ich wahrscheinlich heute selbst ein eher verzerrtes Bild von den Babyjahren unseres autistischen Sonnenscheins.
Zum einen haben wir Eltern den Eindruck, dass sich der kleine Prinz seit jeher für jedes neue Wort, jede neue Bedeutung gleich in beiden Sprachen eine Variante abspeichern möchte. Er schaltet dann auch im Zuge seiner Äußerungen häufig zwischen den beiden Sprachen um, sagt zum Beispiel zuerst die deutsche, dann die spanische Variante, manchmal auch mit einem „der Papi spricht Spanisch“ als zusätzliche Erklärung. Erst gestern kam er beispielsweise wieder zu mir und meinte: „Arde. Was heißt das denn, „arde“? … „Arde“ heißt, „das brennt“. Immer wieder mal stellt er diese Fragen, die er dann aber auch gleich selbst beantwortet. Wir haben auch festgestellt, dass wir sein aktives Wissen spielerisch erweitern können, wenn wir auf diese spezielle Art seiner Wiederholungen eingehen.
Die kommunikative Achse ist in seinen sprachlichen Äußerungen also etwas „schräg“, wenngleich ich den Eindruck habe, dass er sich auch hier stetig weiterentwickelt. Es scheint so, als würde er sich Sprache ganz anders aneignen, als man es als neurotypischer Mensch erwarten würde. Häufig heftet er ganze Sätze an gewisse soziale oder emotionale Situationen und gibt sie dann zum Besten – manchmal in einer adäquaten Situation, manchmal auch nicht. Man bezeichnet das als Echolalie.
Früher war man der Annahme, dass es sich bei Echolalie um ein bedeutungs- und sinnloses Wiederholen leerer Worthülsen handelt. Dass das nicht stimmt, liegt für mich auf der Hand. Beim kleinen Prinzen hat Echolalie unterschiedliche Funktionen. Einerseits bringt ihm die Echolalie eine Art Sicherheit, Regelmäßigkeit in ein Leben, das für ihn bestimmt größtenteils sehr chaotisch und verwirrend ist. Das ist ein Faktor, der für seine seelische Ausgeglichenheit sehr wichtig ist. Zwar ist es für neurotypische Anwesende mitunter etwas eigenartig bis hin zu leicht störend, doch man muss sich immer wieder ins Bewusstsein rufen, dass ein autistischer Mensch diese Dinge nicht tut, um anderen auf die Nerven zu fallen.
Eine weitere Funktion echolalischer Äußerungen scheint beim kleinen Prinzen die Erinnerung an Erlebtes zu sein. Diese Funktion hat – zumindest bei unserem Kind – zwei Achsen, die sich doch maßgeblich voneinander unterscheiden. Die erste Achse ist ähnlich wie bei neurotypischen Kindern, jedoch in kommunikativer Hinsicht weniger wechselseitig ausgelegt: er erzählt, was er erlebt hat. Anstatt „weißt du noch, als …“ wiederholt er eben Sätze, die er mit dem Erlebten in Verbindung bringt. Diese Erinnerungen gehen wirklich sehr, sehr weit zurück. Ich habe so den Verdacht, dass sein Gehirn einfach alles abspeichert, was ich mir auf eine Art auch wieder sehr anstrengend vorstelle, weil man dann ja wahrscheinlich kaum einmal abschalten kann. Eine sehr geschätzte Mutter aus einem Selbsthilfeforum hat mir einmal erklärt, dass diese Erinnerungen auch den Geruch, Geschmack, Ton etc. beinhalten. Das muss man sich einmal vorstellen!
Die zweite Achse ist eine konkrete Erinnerung an ein Gefühl, das er an eine sprachliche Äußerung knüpft. Das klingt wohl erst einmal etwas verworren, und ich habe selbst eine Weile gebraucht, bis ich es verstanden hatte. In Situationen, in denen sich der kleine Prinz gestresst, traurig, verängstigt fühlt – also zunehmend negative Gefühle – gibt er sehr häufig sprachliche Äußerungen von sich, die sich auf eine erlebte Situation beziehen, in der er sich ebenso oder ähnlich fühlte. Ein konkretes Beispiel zur Veranschaulichung: Wenn er sich gerade nicht sicher genug fühlt oder irgendwo der Schuh drückt, dann mag es der kleine Prinz überhaupt nicht, sich von mir zu trennen. Es stresst ihn und er weint, läuft auf und ab und kann sich kaum beruhigen. Da reicht es schon, wenn ich in den oberen Stock gehe um Wäsche aufzuhängen, während er sich unten eine DVD ansehen darf. Er sagt aber nicht: „Bitte, Mami, komm zu mir, ich brauche dich.“ Nein. Er sagt: „Nicht ich hole schnell die Katrin.“ Da bezieht er sich auf eine Situation von vor einem Jahr, als ich einmal nach entsprechend langer Vorbereitung sagte, er solle kurz bei seiner Oma und seiner Tante bleiben, und ich hole rasch eine Freundin ab. Wir hatten uns am Flussufer verabredet, wo wir uns bei Schönwetter gerne aufhalten, am Lagerfeuer grillen, die Kinder im Wasser spielen. Eine Freundin wusste nicht genau, wie sie uns findet, also wollte ich sie von ihrem Auto abholen, was für den kleinen Prinzen psychisch eine ziemliche Herausforderung war.
Ich finde es einerseits sehr faszinierend, andererseits sehr belastend für den autistischen Menschen selbst, wenn diese Erinnerungen samt allen Gefühlen immer wieder abrufbar sind.
Ich bin sehr neugierig darauf, wie die zweisprachige Entwicklung des kleinen Prinzen weiter verlaufen wird. Gerade jetzt im Vergleich mit der kleinen Fee, die sich selbst auch sprachlich schon sehr souverän behaupten kann, fallen uns die Unterschiede deutlich auf. Bestimmt wird auch sie ihren Bruder positiv beeinflussen, und ich hoffe, sein ruhiges und angenehmes Gemüt färbt auch irgendwann auf sie ab, die im Moment alle 10 Minuten mit dem Kopf durch die Wand möchte…
Nachtrag Juni 2017: Vor einigen Tagen ist mir aufgefallen, dass der kleine Prinz Echolalie auch verwendet, um etwas zu verarbeiten. Die Situation war so: die kleine Fee hat den älteren Cousin der beiden gezwickt, weil sie ihm das Rutschauto wegnehmen wollte. Daraufhin hat sich der ältere Cousin bei der Oma, die gerade auf alle drei aufpasste, beschwert. Beim Mittagessen hat mir die Oma die Situation geschildert, und ich habe der kleinen Fee erklärt, dass das nicht in Ordnung ist zu zwicken, dass es dem Cousin weh getan hat, und dass es dem kleinen Prinzen auch immer weh tut, wenn sie ihn zwickt. Daraufhin hat der kleine Prinz wirklich sehr, sehr häufig wiederholt: „Die X hat den Y gezwickt. Das hat dem Y weh getan.“ Ich habe ihm von außen richtig angesehen, wie er das innerlich verarbeitet…
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